Geschichte: So außergewöhnlich ist Neuschloß

Von Michael Bayer

Fünfeinhalb Jahrhunderte Neuschloß haben es richtig in sich. Wer die Geschichte unseres Stadtteils auf sich wirken lässt, erkennt: Neuschloß schafft – in völlig unterschiedlichen Themen – immer wieder Außergewöhnliches. Beständig genauso: das fast schon dramatische Auf und Ab – in langen und kurzen Phasen.

Die Zeit des Jagdschlosses

Schlossanlage - Skizze aus dem Jahr 1709.
Schlossanlage – Skizze aus dem Jahr 1709.

Das beginnt natürlich mit der großen Zeit des kurpfläzischen Jadgschlosses von 1468 bis 1622. Neben dem wildreichen Wald dürfte es die besondere Lage von Neuschloß sein, die den Pfalzgrafen Friedrich I. dazu bewegen, dort sein Jagdschloss zu bauen. Gleich drei wichtige Verkehrsrouten kommen in Neuschloß zusammen:

  • die alte rechtsrheinige Römerstraße von Heidelberg und Ladenburg über Gernsheim und weiter nach Mainz (mit der „Steiner Straße“, in der Karte rosa),
  • der Weg von Neuschloß zur früheren Burg Stein an der Weschnitz-Mündung bei Nordheim über Bürstadt und Hofheim (bei uns bekannt als Renn-, Mühl- oder Heuweg, in der Karte blau),
  • die Straße von Mannhein über die Lampertheimer Heide und Lorsch nach Frankfurt (in der Karte gelb).

Dank der Lage am Knotenpunkt war das Jagdschloss nicht nur schnell zu erreichen. Die Anlage konnte zugleich gut verwendet werden, um Wegezölle zu erheben.

Fürsten und Bischöfe treffen sich auf „Neuschloß“ zum Jagdspektakel im Wald und anschließenden Festessen; der Kaiser kommt zu Besuch, 12.000 Soldaten mit 5.000 Pferden üben in einem Manöver auf der Heide.

Selbstverständlich müssen die Untertanen der umliegenden Gemeinden schuften für den Fürst. Eine Fronordnung verlangt, dass sie Brennholz und Feldfrüchte bringen, Höfe und Ställe säubern und die Gemächer reinigen.

Der Dreißigjährige Krieg beendet diese Epoche: Neuschloß wird endgültig zerstört und nicht mehr aufgebaut. Bis heute bleibt nur der Beamtenbau, den wir gerne als Schloss bezeichnen – und der Lorscher See, den Friedrich I. anlegen lässt, damit der leckere Fisch nicht ausgeht. Und natürlich gibt es noch viele Häuser in Lampertheim, die aus den Steinen der Ruine in Neuschloß entstehen.

Die Zeit der Chemischen Fabrik

Die Chemische Fabrik Neuschloß 1926.
Die Chemische Fabrik Neuschloß 1926.

Die nächste große Epoche beginnt 200 Jahre später. Von 1829 bis 1927 arbeitet in Neuschloß eine Chemische Fabrik – auch sie ist eine Angelegenheit mit weitreichender Bedeutung. Nicht nur wegen des Ausmaßes der Produktionsstätten von fast 50.000 Quadratmetern – plus 35.000 Quadratmeter Ablagerungsstätte für Produktionsrückstände, der heutige „Sodabuckel“. Das entspricht zusammengenommen einer Fläche von elf Fußballfeldern.

Wichtiger aber: Die Fabrik ist, abgesehen von einem kurzzeitigen Vorläufer in Mannheim-Käfertal, die erste deutsche Sodafabrik überhaupt. Auch Glaubersalz, Schwefel- und Salzsäure entstehen. Geheizt wird mit Torf aus der Lampertheimer Gewann „Im Bruch“.

Abnehmer ist die Farbenindustrie. Der schmeckt die Abhängigkeit von der Neuschlößer Fabrik natürlich nicht – sie strebt deshalb eine Fusion an mit dem „Verein Chemischer Fabriken in Mannheim“, zu dem Neuschloß seit 1854 gehört. Doch der Deal kommt nicht zustande. Deshalb gründen die Farbenhersteller ihre eigene Fabrik – es ist die heutige BASF.

Der langjährige Lampertheimer Stadtarchivar Hubert Simon hat einen „Rückblick auf die Geschichte von Neuschloß“ geschrieben, auf dem ältere Informationen hier basieren und der als Broschüre im städtischen Bürgerservice (Haus am Römer) erhältlich ist. Darin stellt er zusammenfassend fest:

„Sie wissen jetzt, dass noch heute ein ansehnliches Jagdschloss hier stehen könnte, wenn die Geschichte unserer Gegend nur einen klein wenig anderen Verlauf genommen hätte! Ebenso könnte sich möglicherweise hier in Neuschloß, aber auch in Lampertheim, vielleicht nahe am Rhein, eine chemische Fabrik von den Ausmaßen der BASF erstrecken.“

Der Vollständigkeit halber: 1885 stellt die Chemische Fabrik die Produktion um auf Superphosphat für Kunstdünger; 1893 entsteht eine Zuganbindung. Bergab geht’s nach dem Ersten Weltkrieg: Eine Anlage, die Sprengstoffe erzeugen kann, muss abgerissen werden. Es fehlen Kohle zum Heizen und die Rohstoffe Rohphosphat und Schwefelkies. Die Fabrik dümpelt dahin – und schließt schließlich 1927.

Zwei Gebäude aus der Fabrik-Ära stehen noch heute in Neuschloß: Aus der Kantine wurde das Restaurant an der Fosthausstraße, viele Jahrzehnte bekannt unter dem Namen „Zur Kurpfalz“, jetzt „Quattro Mori“. Und gegenüber im früheren Wohnhaus des Direktors der Chemischen Fabrik ist nun die Lampertheimer Revierförsterei untergebracht.

Die Zeit der Heimatvertriebenen

Als Ende der fünfziger Jahre der Wohnraum knapp ist und Heimatvertriebene dringend eine neue Bleibe suchen, erinnert sich Lampertheim an Neuschloß. Auf dem Gelände der früheren Chemischen Fabrik soll eine Siedlung entstehen.

Die Industriegebäude dort sind zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgerissen. Aber auf den Grundstücken liegen Bauschutt und Fundamentreste; es gibt unterirdische Gänge und sogar Überbleibsel der Produktion wie Salzlager. Niemand kümmert sich darum; niemand sieht ein großes Problem darin – an möglicherweise gesundheitsgefährdende Altlasten denkt zu dieser Zeit schlicht niemand.

Eine Dokumentation des Projektbeirats Altlasten der Sanierung des Wohngebiets nach der Jahrtausendwende gibt einen Eindruck davon, was alles von der Fabrik übrig geblieben war.
Eine Dokumentation des Projektbeirats Altlasten der Sanierung des Wohngebiets nach der Jahrtausendwende gibt einen Eindruck davon, was alles von der Fabrik übrig geblieben war.

Die Siedler sehen ihre große Chance. Sie nehmen Schippe und Spaten, heben Erde aus, werfen die Reste der Fabrik in die Tiefe und füllen oben die Erde von unten auf. Die meisten der Männer bezahlen später mit ihrem gesunden Rücken oder der Bandscheibe dafür. Immerhin sind die Grundstücke meist um die tausend Quadratmeter groß – sie sind nämlich als landwirtschaftliche Nebenerwerbssiedlung gedacht.

So züchten die Vertriebenen neben ihrer normalen Arbeit in Neuschloß Schweine und Hühner, pflanzen Obstbäume, Weinreben und viel Gemüse an. Gegossen wird mit Grundwasser aus eigenen Brunnen. Die Neuschlößer schlachten, essen die Erzeugnisse selbst und beliefern Metzger und Händler in der Kernstadt.

Und wieder blüht Neuschloß auf, diesmal wortwörtlich. Bilder aus den siebziger Jahren zeigen prächtige Gärten, einer neben dem anderen. In dieser Zeit schickt der Bund der Vertriebenen alle zwölf Monate eine Jury durch die Nebenerwerbssiedlungen des Landes. Und Neuschloß räumt in dem Wettbewerb Jahr für Jahr ab. Noch heute hängen die Urkunden im Nebenraum des Bürgersaals am Ahornplatz. Die Siedler sind mit recht stolz auf das, was sie aus einer Industriebrache geschaffen haben.

Doch in den achtziger Jahren geht den Ersten die Kraft aus; Krankheitsfälle häufen sich, nicht selten ist es Krebs. Offiziell systematisch untersucht wird das nie. Die Siedler einigen sich untereinander, auf Flächen zu verzichten, damit zwischen Ulmen- und Lindenweg der Wacholderweg entstehen kann. Viele teilen ihre Grundstücke; meist bauen jüngere Familienmitglieder Häuser auf den früheren Gemüsebeeten, jetzt am Wacholderweg. Aus der Nebenerwerbssiedlung wird ein Wohngebiet – mit der Besonderheit, dass die Nachbarn das gleiche Schicksal eint oder zumindest gemeinsame junge Jahre.

Die Zeit der Altlastensanierung

Die Gärten zwei Meter tief ausgehoben, das Haus verhüllt - Sanierung im Ulmenweg.
Die Gärten zwei Meter tief ausgehoben, das Haus verhüllt – Sanierung im Ulmenweg.

Es gibt Dinge, mit denen will niemand Aufsehen erregen. Der Zeitabschnitt, der in den achtziger Jahren in Neuschloß beginnt und noch nicht abgeschlossen ist, ergibt sich zwangsläufig, wenn man Fabrik- und Siedlerzeit gemeinsam betrachtet. Es ist die dramatische Epoche der Altlastensanierung.

Am Anfang stehen Jahre des Wegsehens. Die achtziger Jahre beginnen, als die Stadt Lampertheim im Rahmen der zweiten großen Bebauungsphase Grundstücke entlang des Buchenwegs vor dem Wald verkauft – zu einer Zeit also, in der das Bewusstsein für Altlastengefahren eigentlich schon herangereift ist. Und irgendwie scheint man was zu ahnen im Rathaus. Jedenfalls rücken auf einem Teil der vorgesehenen Bauplätze Bagger und Laster an, die Erde abheben – und sie leider an vielen Stellen in Lampertheim abladen, überall wo man gerade baut, unter anderem am Lärmschutzwall im Rosenstock.

Als die Kommune im neuen Wacholderweg einige Jahre später den Kindergarten für Neuschloß bauen will, fallen bei Bodenuntersuchungen Schadstoffe auf. Sie werden saniert – die Stadt nennt als Verursacherin eine Spedition, die dort ihre Wagen abgestellt habe. Und es geht weiter. 1989 graben Erlenweg-Bewohner in ihrem Keller – und erleben eine unliebsame Überraschung. Der Boden blüht nach dem Sauerstoffkontakt aus – eine aggressive chemische Reaktion von Natriumsulfat. Die Stadt stellt die Anwohner in einem zweifelhaften Licht dar, spricht von einem Einzelfall. Und es kommt schlimmer: Studien ergeben, die Schadstoffbelastung auf dem Hügel mit Produktionsresten der Fabrik („Sodabuckel“), wo die Stadt nur zwei Jahre zuvor einen Abenteuerspielplatz errichtete, ist so hoch, dass selbst aufgewirbelter Staub gefährlich sein kann. Erst Monate, nach dem diese Erkenntnis der Verwaltung schriftlich vorliegt, schließt sie den Kinderspielplatz – und sieht weiter keinerlei Gefahr für die Siedlung auf dem früheren Fabrikgelände. Es verfestigt sich der Eindruck, die Stadt will sich unter Bürgermeister Gisbert Dieter (SPD) von ihrer Verantwortung als Verkäuferin der Grundstücke drücken.

Haushoch verlorene Prozesse von klagenden Käufern und die hartnäckige Kreisbeigeordnete der Grünen, Eva-Maria Krüger, bringen in dieser Frage etwas Bewegung ins Rathaus. Letztlich ist es erst der im September 1997 gewählte unabhänigige Bürgermeister Erich Maier, der die Verantwortung der Stadt anerkennt und die Sanierung in Neuschloß mit vorantreibt. Und auch der Lärmschutzwall am Rosenstock muss übrigens aufwendig saniert werden.

Wegsehen wollen aber auch viele Neuschlößer. Fassungslos nehmen die Siedler zunächst zur Kenntnis, dass sie nichts mehr aus ihren vor kurzem noch prämierten Gärten essen dürfen, dass Behörden alle unbedeckte Flächen mit Rollrasen belegen lassen, um Staub zu vemeiden, dass sie nicht mehr mit dem Grundwasser aus ihren Brunnen gießen dürfen. Und als Jahre später Männer mit Motorsägen kommen und sämtliche Bepflanzung entfernen, Bagger die Gartenwege, Garagen und Nebengebäude abreißen – da stehen viele der früheren Heimatvertriebenen daneben mit Tränen in den Augen und dem Gefühl, zum zweiten Mal in ihrem Leben ihre Heimat und alles Geschaffene zu verlieren.

Und um ein Haar wäre das auch tatsächlich passiert. Denn mit dem Bundes-Bodenschutzgesetz gilt seit März 1999 plötzlich die Regel, dass grundsätzlich neben dem Verursacher von Verunreinigungen auch alle Eigentümer die Kosten einer Sanierung tragen müssen. Da eine Auseinandersetzung mit einem Rechtsnachfolger der Chemischen Fabrik wenig Aussichten auf Erfolg verspricht, hätten demnach die 125 betroffenen Grundstücksbesitzer des Sanierungsgebiets zusammen die am Ende gut 90 Millionen Euro aufbringen müssen – was den Wert von Grundstücken und Häuern um ein Vielfaches überschreitet. Der komplette Stadtteil wäre pleite.

Das ist der Punkt, an dem Neuschloß zum vierten Mal beginnt, Außergewöhnliches zu leisten. Hilfreich ist dabei, dass seit der zweiten Bauphase Menschen im Stadtteil leben, die nicht wegschauen, sondern genau hinsehen; die wissen, wie man Dinge in die Hand nimmt. Sie gründen zunächst eine Bürgerinitiative, initiieren dann die Wahl eines Projektbeirats, dem laut Hessischem Altlastengesetz feste Beteiligungsrechte zustehen. Schließlich rufen die Anwohner zusätzlich einen Altlastenverein ins Leben, in den fast alle Grundstückseigentümer eintreten – und der von den Mitgliedsbeiträgen sehr fachkundigen Rechtsbeistand bezahlen kann.

Es folgen langwierige Verhandlungen mit der Stadt Lampertheim, dem Regierungspräsidium Darmstadt und dem Hessischen Umweltministerium. Die Neuschlößer bringen dafür die richtigen Leute mit: welche, die laut auf den Tisch hauen, welche die eher diplomatisch vermittelnd formulieren, welche mit inhaltlichem Sachverstand – und als es sein muss, fast den halben Stadtteil mit Transparenten in Wiesbaden.

Der 22. Januar 2003 ist jener Tag, an dem sich diese Mühe auszahlt. Der Altlastenverein schließt mit der Stadt Lampertheim und dem Land Hessen einen Sanierungs-Rahmenvertrag. Er beschränkt die Kosten für die Grundstückseigentümer auf zehn Prozent, maximal aber je 7700 Euro. Außerdem werden Nebengebäude und Gärten nach der Sanierung wieder hergerichtet – oder die Anwohner entsprechend entschädigt. Ein großer Erfolg, der sich bis heute in Deutschland nicht wiederholt hat.

Seit 2015 ist der Boden auf der bis dahin größten bewohnten hessischen Altlast komplett saniert. Die Bilanz in einigen Zahlen: 113 Grundstücke, 175.000 Tonnen kontaminiertes Bodenmaterial, 6500 Sattelzüge auf den Weg zu Entsorgungsstellen vor allem in Nordrhein-Westfalen, 260 Tonnen Schwermetalle, besonders Blei und Arsen, sowie 180 Gramm Dioxine/Furane.

Die Gärten blühen wieder auf, manche Neuschlößer erweitern jetzt ihre Häuser, Baulücken verschwinden, alle Straßen sind neu asphaltiert. Im Jahr 2016 geht die Sanierung der Halde für Produktionsrückstände, des „Sodabuckels“, zu Ende.

Vom Grundwasser laufen in acht Jahren 2,2 Millionen Kubikmeter durch die Anlage – 580 Kilogramm Arsen werden dabei entnommen. Das ist ziemlich viel – aber im Grundwasser liegen so viel mehr Schadstoffe, dass sich dort kaum eine Verbesserung zeigt. Das Projekt wackelt. Forscher der Universität Heidelberg erkunden nun aber in einem Pilotfeld im Ulmenweg, ob es hilfreich ist, Phosphat ins Grundwasser zu geben, damit sich tief am Gestein festsitzendes Arsen löst – und alles schneller geht. Es wäre ein bisher weltweit einzigartiges Verfahren. Passen würde das zu Neuschloß.

Schlussbemerkung

Wie können wir all das zusammenfassen? Vor allem die zwei jüngsten Etappen zeigen: Neuschloß ist zwar ein kleiner Stadtteil. Der aber aus sich heraus kraftvoll etwas schaffen kann, wenn’s drauf ankommt.

Das zeichnet sich in den vergangenen Jahren auch schlicht im Freizeitspaß ab: Weihnachtsbaum-Schmücken am Ahornplatz, Grusel-Stationen an Halloween, ein Adventsmarkt, der den Lampertheimer Weihnachtsmarkt in Sachen Vielfalt um Längen schlägt. Aber genauso auch in der wundervollen Hilfewelle für jene Menschen, die heute aus ihrer zerbombten Heimat fliehen und bei uns eine neue Bleibe suchen.

Und so gesehen kann es sogar eine schöne Chance sein, dass im März 2016 kein Ortsbeirat gewählt werden kann, weil einige Parteichefs Mist gebaut haben. In einer neu konstruierten Neuschloß-Runde lässt sich dieses vielfältige bürgerschaftliche Engagement vielleicht sogar besser bündeln als in einem Parteien-dominierten Gremium, in dem Anwohner formal keine Rederecht haben. Warum nicht? Neuschloß hat schon viel größere Räder gedreht.